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Pressereise nach Brüssel
15.-17.04.2024
Ein Brüsseler Kaleidoskop von Anke-Sophie Meyer
Handelt es sich um ein riesiges Labyrinth oder eher doch um einen undurchdringlichen Moloch? Ein Labyrinth zeichnet sich dadurch aus, dass ich mich darin voraussichtlich verirre. Beim Betreten eines Molochs kommt Beklemmung hinzu. Oder lerne ich auf meiner Reise einen gut durchorganisierten Ameisenstaat kennen, in dem jede einzelne Ameise weiß, was ihre Aufgabe ist? Letztes eher nicht, flüstert mir eine innere Stimme zu und ergänzt: Vergiss nicht das große Versprechen dieser Gemeinschaft: Frieden, Wohlstand, Gerechtigkeit, Solidarität.
Es ist schon spannend, was einem bei einer Zugfahrt von Berlin nach Brüssel – zum Hauptsitz der Europäischen Union - so durch den Kopf geht.

Kurz vor der Wahl zum Europa-Parlament im Juni reisen wir, eine Journalistengruppe – jeder individuell, die meisten mit dem Flieger – in die belgische Hauptstadt.
Das Innenleben der Europäischen Union soll uns näher gebracht werden. Die komplexen Abläufe der Entscheidungsfindung; das Unterschiedliche von 27 Nationen, das letztlich in Gesetze und Verordnungen gegossen wird. Wir sollen unsere zahlreichen Klischees überprüfen, bestenfalls revidieren und unser Wissen erweitern. So oder ähnlich habe ich die Einladung an uns Journalistinnen und Journalisten verstanden. Ich breche auf zum Realitätscheck.

Als wir im Hotel ankommen, regnet es. Es wird in den nächsten Tagen weiter regnen. Deshalb erhalten wir beim morgendlichen Start zu den Sehenswürdigkeiten der Innenstadt einen Regenschirm, in weiser Voraussicht unserer kundigen Begleitung Laurent Brihay, Direktor des Brüsseler Journalistenclubs. Er scheint diese Stadt zu kennen. Brüssel ist eine Stadt des Regens. Im Durchschnitt regnet es dort 200 Tage im Jahr.

Wir nehmen die U-Bahn zum Atomium, dem futuristischen Wahrzeichen der Stadt, präsentiert im Rahmen der Weltausstellung von 1958. Auch dort pfeift der Wind, aber den Regenschirm brauchen wir nicht. „Das Atomium wurde von dem belgischen Ingenieur André Waterkeyn entworfen“, erklärt die junge Belgierin, die uns führt. Es handele sich dabei um die symbolische Darstellung eines Eisenkristalls in 165-milliardenfacher Vergrößerung, die den wissenschaftlichen Fortschritt und die optimistische Zukunftsvision der 1950er Jahre verkörpere. Wir durchwandern einige der neun miteinander verbundenen Kugeln, die für Besucher zugänglich sind. Fotos im Inneren des Bauwerks zeigen Besucher der Weltausstellung, machen diese Zeit lebendig. Eindrucksvoll ist der Blick von der Aussichtsplattform auf die Skyline der belgischen Hauptstadt.
Vom Atomium geht es in die historische Altstadt mit ihren verwinkelten Gassen und Höfen, vorbei am Männiken Pis, den zahlreichen Geschäften, die Waffeln und Moules Frites anbieten bis zu dem 2018 vom Künstler Tom Frantzen in Bronze gegossenen belgischen Chansonnier Jacques Brel. Hier zu sehen in der Ästhetik einer Mickey Mouse Figur. Die Statue auf dem Place de la Vieille Halle aux Blés stellt den Sänger mit weit geöffneten Armen hinter seinem Mikrofon dar.

Wir erreichen den Grand-Place, ein Unesco-Weltkulturerbe, das Herzstück von Brüssel, ein historischer Platz, umrahmt von herrschaftlichen Gebäuden mit dem gotischen Rathaus im Zentrum.
Hier begrüßt uns der Bürgermeister von Brüssel Philippe Close, ein Mitglied der Parti Socialiste und in seinen jungen Jahren Boxer, wie er stolz bei einem Glas Champagner berichtet. Brüssel stehe vor zahlreichen Herausforderungen, sagt er unumwunden: Verkehrsstaus, Luftverschmutzung, soziale Ungleichheit und eine zunehmende Kluft zwischen den verschiedenen Stadtteilen seien einige davon.
Eingeführt beim Bürgermeister hat uns Laurent Brihay. Das hat zu tun mit der Rolle des Brüsseler Presseclubs, der sich nicht als unabhängigen Hintergrundkreis versteht, finanziert durch Mitgliederbeiträge, sondern als bezahlter Dienstleister. Er bietet Journalisten und Medienvertretern einen Raum für Diskussionen, Veranstaltungen und Pressekonferenzen zu aktuellen politischen Themen, insbesondere im Zusammenhang mit der EU und den nationalen Belangen Belgiens mit direkten Zugang zu politischen Entscheidungsträgern und Experten.

Gerald Praschl
"Fakten zum Mitreden"
Christoph von Marschall
„Die progressive Mehrheit ist in Gefahr“: Was ein Rechtsruck bei der Europawahl wirklich bedeuten würde
Christoph von Marschall fotografiert von Vincent Mosch
Christoph von Marschall fotografiert von Vincent Mosch
Christoph von Marschall fotografiert von Vincent Mosch
Nach dem Schwelgen in historischer Kulisse folgt am nächsten Morgen unser Eintauchen, ja Verschwinden, in den Glaskästen der EU-Gebäude, die nicht weit von unserem Hotel liegen.
„Menschenleer, wie ausgestorben wird es hier an Wochenenden sein“, lautet der Kommentar eines Kollegen auf dem Weg dorthin. In den Glaskästen selbst scheint die Stimmung unter den Mitarbeitern gut. Höflich, gutgelaunt, als sei es eine Ehre, dazuzugehören.
Wir besuchen den Plenarsaal, die Studios und die audiovisuellen Dienste. Hier wird mit vergleichsweise wenig Personal die mediale Versorgung für 27 Staaten sichergestellt.
Eng getaktet führen wir vertrauliche Gespräche mit Vertretern fast aller Parteien und stellen nach kurzer Zeit fest: Die EU-Entsandten haben in ihrer Agenda und in ihren Meinungen wenig zu tun mit den Parteifreunden zu Hause, ja kritisieren diese offen. Wohltaten der EU, die den Gemeinden und Regionen des eigenen Landes zu Gute kämen, würden häufig nicht der EU zugeschrieben.
Lokal- und Bundespolitiker kassierten die Lorbeeren und reklamieren Errungenschaften für sich und ihre nächste Wiederwahl. Es sei eindeutig: Die EU habe definitiv ein Marketingproblem. Was die EU sowohl bei der Gesetzgebung als auch bei Subventionen für jeden Einzelnen, jede Region, jede Gemeinde an positiven Veränderungen gebracht habe, gelange nicht ins kollektive Gedächtnis. Was bleibt, sind nach Auffassung unserer Gesprächspartner die vermeintlichen Fehlentscheidungen, das Überregulierte, das Absurde, wie etwa die legendäre Banane, die auf Grund ihrer Krümmung nicht EU-fähig ist. Alle Versuche, dies zu ändern, seien nicht von Erfolg gekrönt.
Also wie den europäischen Gedanken sichtbar machen, wie die Errungenschaften? Dies ist die Frage, die unsere Gesprächspartner, darunter die Europaabgeordneten Reinhard Bütikofer (Die Grünen, EFA), Jens Geier (SPD, S&D), David McAllister (CDU, EVP), Michael Bloss (Bündnis 90Die Grünen, EFA), umtreibt. Heimische Politiker müssten in der Frage enthusiastischer sein, keine Frage. Konkrete Vorteile von Gesetzesbeschlüssen und Subventionen immer wieder akribisch ausbuchstabieren und in den Vordergrund stellen. Aber wer macht das bis jetzt? Die EU ist weit weg und wirkt eher hemmend, wenn es um politischen Erfolg im eigenen Land geht, lernen wir.
Dieses Phänomen betrifft alle 27 Länder, einige mehr, einige weniger.
Immer wieder taucht bei unseren Gesprächen die Frage auf: Wird es einen Rechtsruck geben? Trotz aller Skandale und Enthüllungen kurz vor der Europawahl. Wohl würden die Rechten mehr Sitze im Parlament ergattern, hören wir in unseren Gesprächen, ihren Einfluss könnten sie dadurch aber nicht maßgeblich steigern, lautet die überwiegende Einschätzung.
Gespannt ist man in Brüssel auch darauf, wie sich die Wahlmöglichkeit der 16-Jährigen auswirkt. In jedem Fall bedeutet eine hohe Wahlbeteiligung gelebte Demokratie. 350 Millionen Menschen können ihre Stimmen bei der EU-Wahl im Juni abgeben.
Auch unsere nächsten zwei Tage sind straff organisiert. Ein Schnelldurchlauf in Sachen Migrationsgesetz, Grüne Industriepolitik, EU-Außenpolitik und KI stehen auf dem Programm, erklärt von kundigen EU Beamten. In Erinnerung bleiben das Kleinteilige und Langwierige all dieser Vorhaben. Der lange Atem, den hier jeder und jede braucht - vom Referenten bis zur stellvertretenden Generaldirektorin für Migration und Inneres. Dabei ist das Aufgabenspektrum immens und verschwindet in Arbeitseinheiten, die in der Kürze der Zeit schwer zu durchschauen sind.
Aufschlussreich sind die Ausführungen von Vladimir Bilcik (EVP, SK), der uns über die zahlreichen ausländischen Versuche von Desinformation und Einflussnahme auf die demokratischen Prozesse der EU informiert. Er schätzt die Aufgabe der digitalen Task Force vor der Europa-Wahl im Juni als extrem hoch ein.

Wir treffen Brando Benifei, Berichterstatter des Binnenmarktausschusses, der uns das kürzlich beschlossene EU-Gesetz zur Künstlichen Intelligenz – mit dem inakzeptable KI-Praktiken in Europa verboten und Bürger geschützt werden sollen - erläutert. Erneut stellt sich heraus, das EU-Geschäft ist mühselig für alle Beteiligten. Die Verhandlungen zwischen dem Rat und dem Parlament hatten sich über Monate hingezogen, zunächst in getrennten Gesprächen über jedes einzelne Gesetzgebungsdossier und zuletzt im so genannten „Jumbo“- Format, bei dem die fünf Gesetzesentwürfe auf einmal unter dem Motto „nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist" behandelt wurden.
Auch nach zahlreichen erklärenden Gesprächen bleibt der Eindruck: die Verwaltungsebene ist nicht leicht zu durchschauen. Es gibt Türen und Hintertüren, Notausgänge und unübersichtliche, wenn nicht geheime Flure und Gänge. Kommuniziert wird in einer Blase, in der sich nur Eingeweihte zurechtfinden. Das dürfte auch für jeden Neuankömmling eine Hürde sein.

Doch wie kann eine Wende gelingen? Wie lassen sich Bürokratie, Überregulierung und Praxisferne überwinden? Wie lassen sich Entscheidungsprozesse verkürzen? Effizientere Verfahren müssten Einzug halten. Entscheidungsverfahren rationalisiert und effizienter gestaltet werden. Das würde Zeit sparen und die Durchsetzung von politischen Maßnahmen beschleunigen. Doch wie realistisch ist dies, frage ich mich. Die Themen sind komplex. Das bürokratische System mit vielen Institutionen, Verfahren und Hierarchien ebenso. Die meisten Entscheidungen betreffen politische, wirtschaftliche und rechtliche Fragen, die sorgfältige Prüfung und Diskussion erfordern. All dies unter Berücksichtigung verschiedener Interessen und Perspektiven der 27 Mitgliedstaaten. All das macht die EU, was Entscheidungsfindungen angeht, extrem langsam. 
Und diese Langsamkeit wird zum öffentlichen Ärgernis. Stärkere Führung und Koordination könnten etwas ändern. Doch wie soll dies geschehen? Was fehlt, ist der sprichwörtliche Faden der Ariadne, der durch das Labyrinth führt. Mit ganzer Kraft ausgelegt von den Bürgern Europas, die sich selbstbewusst für die europäische Gemeinschaft entschieden haben. Ein Leitfaden, dem auch die EU-Entsandten folgen. Davon allerdings sind wir auch innerhalb der Institution weit entfernt. Wir haben es bei der neuen Generation von EU-Beamten mit Salamandern zu tun, schreibt Robert Menasse sinngemäß in seinem Buch „Die Hauptstadt“. Nicht unbedingt mit überzeugten Europäern. Auch für mich stellt sich der Eindruck ein: Es gibt den Versuch das Beste auf gut bezahltem Posten im eigenen Arbeitsbereich zu leisten, wenn das nicht schnell erfolgen kann: c´est la vie. Das Problem ist nur, eine solche EU verliert an Glaubwürdigkeit und macht aggressiv. Der Druck der öffentlichen Meinung steigt. Wird dies zu Reformen führen, die mehr als Lippenbekenntnisse sind?
Mein Eindruck nach drei Tagen: Das Problem ist erkannt, auch intern, die Verwaltungsmaschine EU arbeitet aber vorerst weiter wie zuvor. Es fehlt an Willen und Kraft, sich neu aufzustellen.
Das Fazit: Die EU ist meilenweit entfernt von der Alltagswelt des Durchschnittsmenschen, beeinflusst dieses Leben aber durchaus. Hinzu kommt das Wissen um die Vielzahl von Lobbyisten, die übermäßig der EU-Politik die Türen einrennen und das Vertrauen in EU-Parlamentarier und Beamte nicht größer werden lässt.

Unseren letzten Abend feiern wir im Restaurant Kafeneio. Mit dabei ist EU Kommissar Johannes Hahn, zuständig für Haushalt und Verwaltung. Am Nebentisch speist Nigel Farage. Was macht der hier so kurz vor der Europa-Wahl, fragen wir uns.
Nach drei Tagen in Brüssel sind viele Fragen offen. Der Eindruck vom riesigen Labyrinth bleibt. Aber in einem Moloch, der Beklemmung auslöst, war ich nicht zu Gast. Dies ist vor allem den Menschen im Sisyphusuniversum zu verdanken, denen ich begegnet bin.